Vertrauensschutz bei Änderung der Rechtsprechung
Praxisfrage: Haben Steuerpflichtige einen Vertrauensschutz, wenn sich die Rechtsprechung ändert❓
BFH-Urteil zum Vertrauensschutz
☞ Der BFH hat mit Urteil vom 24.08.2023 (V R 49/20) entschieden, dass § 176 Abs. 2 AO keinen Änderungsschutz gewährt, wenn der BFH eine dort bezeichnete Verwaltungsvorschrift erst nach dem Erlass des angefochtenen Änderungsbescheids als nicht mit dem geltenden Recht in Einklang stehend bezeichnet.
☞ Dabei kommt es nicht auf die Verkündung des Urteils, sondern auf dessen Veröffentlichung auf der Website des BFH an.
Aktueller Fall
Im vorliegenden Fall ging es um die Umsatzbesteuerung bei der Verpachtung eines land- und forstwirtschaftlichen Betriebs (Grundstück mit Boxenstall für Milchvieh), bei dem vordergründig strittig war, ob es zur Anwendung der Mindestbemessungsgrundlage nach § 10 Abs. 4 UStG gekommen war.
Dabei kam es zunächst aber auch entscheidend darauf an, ob der Kläger wirksam zur Umsatzbesteuerung optieren konnte.
Vergleichbarer Fall zuvor
In einem vergleichbaren Fall hatte der BFH mit Urteil vom 01.03.2018 (V R 35/17) entschieden, dass ein Unternehmer bei der Verpachtung nicht nach § 9 Abs. 2 S. 1 UStG zur Umsatzsteuer optieren kann, wenn der Pächter – wie im aktuellen Streitfall – seine Umsätze nach Durchschnittssätzen i.S.d. § 24 UStG versteuert.
Der BFH hatte damit Abschnitt 9.2 Abs. 2 UStAE widersprochen. Das Urteil wurde am 16.05.2018 auf der Internetseite des BFH veröffentlicht.
Ursprüngliche Umsatzsteuerfestsetzung 2014
(eingegangen beim Finanzamt am 10.03.2016)
Neues BFH-Urteil vom 01.03.2018 (keine Umsatzsteueroption bei der Vermietung an Landwirte, die nach Durchschnittssätzen versteuern) Änderungsbescheid vom 28.03.2018 (durch Einspruch angegriffen). Verkündung des neuen BFH-Urteils vom 01.03.2018 am 16.05.2018
Vorinstanz zum Vertrauensschutz
Die Vorinstanz war der Auffassung, dass für das Streitjahr 2014 Änderungsschutz nach § 176 Abs. 2 AO zu gewähren war, weil das neue BFH-Urteil vom 01.03.2018 (keine Umsatzsteueroption bei der Vermietung an Landwirte, die nach Durchschnittssätzen versteuern) bereits am 1.03.2018 – und damit vor dem Änderungsbescheid für das Streitjahr 2014 am 28.03.2018 ergangen war.
Somit durfte die neue BFH-Rechtsprechung aus Sicht des FG nicht zu Ungunsten des Steuerpflichtigen berücksichtigt werden (vgl. Urteil des Niedersächsischen FG vom 26.11.2020 – 11 K 12/20).
Hinweis:
Für die Folgejahre sah das FG auch keine Möglichkeit zur Vorsteuerberichtigung nach § 15a UStG, weil es sich nicht um eine Änderung der Verhältnisse handelt, wenn der Vorsteuerabzug in den Vorjahren unzutreffend gewährt wurde (vgl. EuGH-Urteil vom 11.04.2018 – C-532/16). Denn bei einer unzutreffenden Beurteilung ändern sich die Verhältnisse des Sachverhaltes regelmäßig nicht.
BFH-Urteil
⚠️Der BFH lehnte die Sichtweise der Vorinstanz ab und bestätigte die Auffassung des Finanzamtes, dass kein Vertrauensschutz zu gewähren sei, weil es dabei nicht auf das Datum der Verkündung des BFH-Urteils am 01.03.2018, sondern auf das Veröffentlichungsdatum der Entscheidung am 16.05.2018 ankam.
Da die Rechtsprechungsänderung erst nach dem Änderungsbescheid für das Jahr 2014 erging, gewährte der BFH keinen Vertrauensschutz nach § 176 Abs. 2 AO.
Das neue BFH-Urteil vom 01.03.2018 (keine Umsatzsteueroption bei der Vermietung an Landwirte, die nach Durchschnittssätzen versteuern) war somit bereits vollumfänglich anzuwenden und kein Vertrauensschutz zu gewähren. Die Vermietung wäre somit umsatzsteuerfrei zu behandeln, sodass dem Kläger der Vorsteuerabzug aus der Errichtung des Boxenstalls zu versagen wäre.
Rückverweisung an Vorinstanz
Die Sache wurde jedoch an die Vorinstanz zur weiteren Sachverhaltsaufklärung zurückverwiesen, weil das FG im zweiten Rechtsgang noch aufzuklären hat, ob es sich bei der Mitvermietung der Betriebsvorrichtungen um eine einheitliche Leistung handelt, die das Schicksal der Hauptleistung – steuerfreie Grundstücksvermietung – teilt. Der BFH hat auch bereits angedeutet, dass einiges dafür spricht (vgl. Rz. 26 im BFH-Urteil vom 24.08.2023 – V R 49/20).
Hinweis:
Das FG wird bei seiner Entscheidung auch die später eingefügte Übergangsregelung des BMF im Schreiben vom 06.11.2020 nicht beachten.
Danach wird es zwar nicht beanstandet, wenn die neuen Grundsätze (keine Umsatzsteueroption bei der Vermietung an Landwirte, die nach Durchschnittssätzen versteuern) für Umsätze, die vor dem 1. Januar 2020 bewirkt wurden, nicht angewendet werden. Diese Verwaltungsanweisung ist aber ebenso rechtswidrig wie die damalige Regelung in Abschnitt 9.2 Abs. 2 UStAE a.F., sodass das FG diese nicht beachten darf.
Voraussetzungen für Vertrauensschutz
Für den Vertrauensschutz nach § 176 Abs. 2 AO kommt es nicht auf das Datum der Entscheidung (Verkündung), sondern auf das Datum der Veröffentlichung an. Damit entspricht die Systematik der des § 176 Abs. 1 AO. Denn auch hier gilt: Der Vertrauensschutz greift damit nicht ein, wenn das maßgebende Ereignis, an das der Vertrauensschutz anknüpft, also etwa die Änderung der Rechtsprechung, in der Zeit zwischen Änderungsbescheid und Einspruchsentscheidung erfolgt, da dann der Änderungsbescheid nicht aufgrund des maßgebenden Ereignisses, also etwa der Änderung der Rechtsprechung ergangen sein kann (siehe Rz. 17 zu AO § 176 in Schwarz/Pahlke/Keß).
Erforderlich für den Vertrauensschutz nach § 176 Abs. 2 AO ist somit ein ursprünglicher Steuerbescheid und eine bereits veröffentlichte Rechtsprechung, welche der bisherige Verwaltungsauffassung widerspricht. Nur in diesem Fall darf kein Änderungsbescheid mehr ergehen. Wurde der Änderungsbescheid (aus welchen Gründen auch immer) vor der Veröffentlichung der neuen Rechtsprechung erlassen, wird hinsichtlich dieses Sachverhaltes (trotz Einspruch) kein Vertrauensschutz gewährt.
Hinweis:
Vertrauensschutz gilt i. Ü. nicht nur bei Steuerbescheiden, sondern auch bei Steuerfestsetzungen, die unter dem Vorbehalt der Nachprüfung stehen. Das gilt jedenfalls für Umsatzsteuerfestsetzungen aufgrund einer eingereichten Umsatzsteuer-Jahreserklärung. Bei Umsatzsteuer-Voranmeldungen gilt dies jedoch nicht, weil die Umsatzsteuer-Jahreserklärung die Voranmeldungen ersetzt (vgl. Rz. 12-13a zu § 176 AO in Schwarz/Pahlke/Keß).
Die Klarstellung des BFH wird noch einmal anhand eines Schaubilds verdeutlicht:
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Quelle: BFH-Urteil
Autor: Jürgen R. Schott
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